Die goldenen Fäden

Im Supermarkt hinter der Kasse.
Ein älteres Ehepaar trägt seine Einkäufe zum Ausgang.
Sie: "Das ist schwer. Kannst du das tragen?"
Er: "Ja."
"Sicher?"
"Ja."
"Ganz sicher?"
"Ja."

In der Warteschlange beim Kaffeehändler meines Vertrauens.
In meinem Rücken abwechselnd Klimpern und ansteckendes Giggeln.
Eine kurze Pause.
Und erneut Klimpern und Giggeln.
Des Rätsels Lösung: ein wenige Monate altes Mädchen auf dem Arm seiner Mutter greift immer wieder nach den Schmuckreifen an deren Arm. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Silberreifen zum Klingen zu bringen, patscht die Kleine gegen den Arm ihrer Mutter, woraufhin diese den Arm schüttelt.
Kaum fangen die Reifen an zu klingen, giggelt die Kleine vor Vergnügen.
Und will eine Wiederholung.

Sehr lange habe ich überhaupt nichts gehört.
Leider.
Feierabendverkehr und die S-Bahn proppevoll.
Plötzlich höre ich eine Frauenstimme laut und aufgeregt in meine Lektüre sagen:
"Hat jemand von Ihnen mal etwas zu trinken?"
Dann, ein wenig leiser: "Aber ich kann das Heimlich-Manöver nicht."
Ich sehe hoch.
Auf der anderen Seite des Ganges steht eine junge Frau vor einem älteren Mann mit einer Pizza-Schachtel auf dem Schoß. Er hält sich eine Hand vor den Mund und scheint zu würgen.
Zu hören ist nichts.
Die junge Frau blickt auf ihn hinunter und ruft dann erneut durch den Wagen:
"Hat jemand mal etwas zu trinken?"
Eine Frau in der Nähe einer Tür sagt:
"Ich habe nichts zu trinken, aber ich kann Hilfe holen. Brauchen wir einen Arzt?"
Sie hält ihr Handy hoch.
Die junge Frau sieht fragend zu dem Mann mit der Pizza-Schachtel.
Er räuspert sich, hustet auch, aber nicht laut. Noch immer ist nicht auszumachen, daß er mit dem Ersticken kämpft.
Dann kommt eine Flasche Mineralwasser aus der nächsten Bankreihe. Die Frau, die sie spendet, sagt entschuldigend:
"Aber ich habe schon davon getrunken."
Die junge Frau nimmt lächelnd die Flasche und hält sie dem Mann hin.
Er legt die Pizza-Schachtel neben sich auf den Sitz und greift nach dem Wasser.
Inzwischen haben wir die nächste Station erreicht. Die Frau mit dem Handy fragt erneut:
"Soll ich einen Arzt holen?"
Der Mann trinkt einen Schluck Wasser, hustet nochmal und sagt dann: "Danke."
Die junge Frau fragt: "Geht es wieder?"
Er nickt.
Trinkt.
Hustet erneut.
Der Zug fährt weiter.
Die junge Frau setzt sich wieder auf ihren Platz.
Nachdem der Mann noch einige Male gehustet hat, bedankt er sich bei der jungen Frau.
Sie lächelt.
Der Mann will die Wasserflasche zurückgeben, aber die ursprüngliche Besitzerin lehnt ab.

Tierpark.
Im Orang-Utan-Haus.
Das Orang-Utan-Männchen kommt aus dem hinteren Teil des Geheges in Richtung der Besucher.
Eine Frau sagt zu ihrem Sohn:
"Guck' mal, da kommt der Gorilla."
Der Orang-Utan setzt sich an den Rand des Wassergrabens und sieht die Besucher an.

In der S-Bahn.
"Können wir Quartett spielen?", fragt ein Mädchen.
"Ich möchte jetzt nicht Quartett spielen.", sagt die Mutter.
"Ich möchte lieber aus dem Fenster schauen."
"Da kann man ganz tolle Sachen entdecken.", sagt die andere Tochter.
"Genau.", sagt die Mutter. "Manchmal sogar eine Ratte."

Würde ich gern, aber traurigerweise gibt es nichts zu lauschen.
Eine Grundschulklasse entert die S-Bahn, was natürlich alles andere als geräuschlos vonstatten geht.
Überall sitzen plötzlich Kinder, die erzählen, lachen, rufen, essen, trinken, sich umsetzen und weiter erzählen.
Nur ein Junge auf der Bank mir gegenüber spricht während der halbstündigen Fahrt kein einziges Wort.
Sitzt da und sieht aus dem Fenster.
Bewegt immer mal wieder seinen Unterkiefer auf und ab, als wolle er sich selbst davon überzeugen, daß seine Sprechwerkzeuge einsatzbereit seien.

Ein Punker-Pärchen kommt auf den S-Bahnhof.
Ich bemerke die beiden, weil er rumbrüllt, ohne daß ich den Inhalt verstehen könnte.
Die Bierflaschen in ihren Händen schwanken.
In der S-Bahn geht das Gebrüll weiter.
"Ey, ihr Depressiven, wie ist es so in eurem Scheiß-Leben?" -
"Entspreche ich nicht wieder voll eurem Klischee?"
Auf seiner Lederjacke steht: 'Scheißen ist Arbeit.'
Eine Weile Gebrabbel in mezzoforte, dann wieder laut:
"Konsens ist Nonsens."
Zu seiner Begleiterin, die bis jetzt völlig stumm geblieben ist:
"Weißt du, was Konsens ist?"
Sie schüttelt den Kopf.
"Soll ich dir mal erklären, was Konsens ist?"
Sie nickt.
Ich steige aus.

Großvater und Enkelsohn am Straßenrand.
Geübt wird das sichere Überqueren der Straße.
Dazu muß der Kurze im geeigneten Moment seinen Arm waagerecht nach vorne auf die Straße halten, so daß die Autofahrer seine Absicht erkennen können.
Er tut sich so schwer, daß er den richtigen Moment immer wieder verpaßt und dann von seinem Großvater zurückgehalten werden muß.
Schließlich klappt alles, und der Junge will losgehen.
Da sagt der Großvater in allerschönstem Oxford-Englisch:
"You dropped the letter, Leslie Anton."

Ein kleines Mädchen mit Puppe im Arm und Papa an der Hand in der S-Bahn.
"Guck mal, Papa, der Zug macht Pause."
"Nein", sagt der Vater. " Dies ist eine Haltestelle."

S-Bahn.
Steht.
Schon seit einigen Minuten im Bahnhof.
Dann die Stimme des Fahrers aus dem Lautsprecher:
"Verehrte Fahrgäste!
Wir warten noch auf einen Anschlußzug.
Sobald wir die Gäste an Bord haben, fahren wir sofort weiter."
Darauf ein Typ zwischen zwei Bissen Pommes:
"Bist Du sicher?"