Die goldenen Fäden

Im Discounter.
Überlege, was ich für meine Weiterbildung an Proviant brauche. Das Discounter-Radio spielt ein Lied mit einem anregenden Rhythmus. Also tanze ich ein bißchen vor den Regalen hin und her.
"Wollen wir ein bißchen tanzen?"
Ich schaue hoch.
Der Anbieter ist häßlich, fett, irgendwie schmierig und stinkt nach Alkohol. In der linken Hand hält er eine Flasche Cola, in der rechten eine Flasche Köm.

Och nö.

Am Geldautomaten.
Es ist kurz nach achtzehn Uhr, und der Vorraum der Bank, in dem sich die Automaten befinden, wird geputzt. Da ich häufig um diese Zeit herkomme, kenne ich die Reinigungskraft.
Wir grüßen uns.
Als ich an den Geldautomaten trete, kommt ihr Hund, ein kleiner Jack Russell-Terrier, aus dem Schalterraum und streicht mir einige Male um die Beine, als wollte er mich ebenfalls begrüßen.
Kurz danach tritt eine Frau an den Geldautomaten neben meinem.
"Entschuldigung", sagt sie zu mir. "Können Sie mal Ihren Hund zurückrufen?"
"Nein.", sage ich. "Das ist nicht mein Hund."
Ich beobachte, wie der Hund einige Male um die Beine der Frau streicht, während diese sich nun an die Putzfrau wendet und ihre Bitte wiederholt.
"Mein Hund will nur nett sein.", entgegnet diese. "Im Unterschied zu vielen Menschen."
"Aha.", sagt die Frau am Geldautomaten.

In der S-Bahn.
Zwei Frauen und ein Mann, alle in ihren Zwanzigern, unterhalten sich.
"Feiert Ihr auch die Sommersonnenwende?", fragt eine der Frauen.
"Wissen wir noch nicht.", antwortet die andere. "Aber auf jeden Fall die Walpurgisnacht."
Ich schaue mich verstohlen um, ob ich einen Besen entdecke.

Ein mittelalter Herr und zwei ältere Damen in der S-Bahn.
"Schaut mal!", sagt der Herr und zeigt aus dem Fenster. "Immer wenn ich an diesem Haus vorbeifahre, freue ich mich über die Weihnachtsbeleuchtung."
Mir war das Haus auch schon aufgefallen. Im Garten des zweistöckigen Mehrfamilienhauses ein überdimensionaler Schlitten mit Rentieren, darauf ein Weihnachtsmann und drumherum eine Gruppe von Rehen, alles überreich mit Lichterketten verziert. Sämtliche Büsche tragen Lichterketten, ebenso sämtliche Balkonbrüstungen. In den Fenstern - in allen Fenstern - Lichtbögen, Sterne und weitere Lichterketten.
"Wie gut, daß alle Mieter mitmachen.", sagt der Herr zu seinen Begleiterinnen. "Sonst wäre es den Nachbarn gegenüber ja Lichtbelästigung."

Mutter und Sohn in der S-Bahn.
Mutter: "Was machen Papa und Nicole denn an Weihnachten?"
Der achtjährige Junge: "Die wollen ins Schwimmbad und in die Sauna."
Mutter: "Ja, was soll man an Weihnachten auch sonst groß machen?"

Sonntagnachmittag in der S-Bahn.
Eine junge Frau am Handy.
"Dieses Wochenende war total anstrengend.
Das letzte auch schon.
Ich gehe morgen zum Arzt.
Ich muß mich mal eine Woche ausruhen."

Zwei junge Frauen gehen über eine Monster-Kreuzung.
Plötzlich springt die Ampel von Grün auf Rot.
Sofort nähert sich von links ein riesiger Gelenkbus. Von rechts kommen auf drei Spuren Autos angebraust.
Beide Frauen beginnen zu laufen.
Eine der beiden sieht mich am Straßenrand stehen und sagt im Laufen zu der anderen:
"Das sieht jetzt bestimmt blöd aus."

In der Bank.
Am Geldautomaten.
Obwohl drei andere Terminals frei sind, stellt sich jemand dicht schräg hinter mich.
Was ich absolut nicht leiden kann.
Dann geht die Person um mich herum, stellt sich dicht neben mich und spricht mich an.
Während ich meine Geheimzahlen eingebe.
Kann ich absolut nicht leiden.
Als sie zu sprechen beginnt, hüllt sie mich in altekalte Zigarette.
Richtig - kann ich absolut nicht leiden.
"Gerda?"
Ich blicke hoch und sehe eine alte Frau.
Noch bevor ich etwas entgegnen kann, sagt sie:
"Offensichtlich nicht."
Dreht sich um und geht.

Im Radio-Quiz antwortet der Kandidat auf die Frage, wie das neue Album der Popsängerin Adele heißt:
"Eintracht Braunschweig."

Mittagszeit. In der S-Bahn.
Stille.
Stille im Wagen.
Stille auf dem Bahnsteig.
Stille.
Nachdem der Zugführer durchgesagt hat, daß sich die Weiterfahrt des Zuges verzögern werde, und alle Fahrgäste eingeladen hat, in einer Schweigeminute der Opfer der Anschläge von Paris zu gedenken.